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Sybille (71 Jahre)

„Nur Mut gegen alle Widerstände und gesellschaftliche Rollenbilder“

Als junge Frau, die viel zu früh schwanger und in meiner ersten Ehe bitter enttäuscht wurde, sehnte ich mich nach einer perfekten Familie mit einem beschützenden Mann, der meine Tochter liebt. Ich musste herausfinden, dass hinter dem freundlichen Gesicht meines zweiten Ehemannes ein Monster stecken konnte, der einschüchtert und zuschlug. Man sah ihm dabei sein Vergnügen an. Er misshandelte meine große Tochter. Und ich konnte ihr nicht helfen. Dann wurde auch ich immer und immer wieder verbal und körperlich angegriffen, meine Seele und mein Körper wurden geschunden. Ich habe lange ausgehalten, weil ich glaubte, dies der Familie schuldig zu sein und weil ich mich als Versagerin fühlte, schon wieder in einer Ehe gescheitert zu sein. Schuldgefühle und die gesellschaftliche Vorstellung, wie man als Frau zu leben hat, verhinderten lange, dass ich mich wehrte.

Als ich dann nicht mehr weiterwusste und in eine tiefe Depression stürzte, konnte ich mit Hilfe von lieben, fachkundigen Beraterinnen die Kraft wiederfinden, mich von diesem Mann zu trennen und so mein Leben unabhängig und selbstbestimmt zu führen. Geblieben sind unsichtbare Narben auf der Seele.

Ausführliche Darstellung:

Meine Geschichte ist alt, aber sie dürfte sich leider noch immer wiederholen. Ich lebe hier in Sachsen- Anhalt auf dem Land. Da lebte ich fast immer und dort fühle ich mich auch zu Hause.

Als ich noch sehr jung war, es ist so ewig lange her – verliebte ich mich wahnsinnig in einen großen, stattlichen Mann und wurde schwanger. Und da dies zu dieser Zeit in der DDR ein Makel war, unverheiratet schwanger zu werden, folgte die Hochzeit, noch bevor mein Kind auf die Welt kam.

Wir zogen in sein Heimatdorf, weit weg von meiner geborgenen Umgebung und meinen Eltern. Die Ehe verlief desaströs. Er trank zu viel und wir hatten zu wenig Geld. Für die Ehe war ich eigentlich noch zu jung und im Haushalt gänzlich unerfahren. Alles musste ich mir mühsam beibringen. Hilfe erhielt ich nur über die Briefe meiner Eltern. Dann kam auch noch heraus, dass er mich seit Beginn der Ehe betrog. Das war zu viel. Ich bin eine stolze Frau. So ging ich mit unserem Kind zurück zu meinen Eltern und reichte die Scheidung ein. Dann begann ein friedliches und ruhiges Leben mit meiner Tochter. Ich fand eine Arbeit, die mir gut gefiel. Langsam wurde ich unabhängig.

Dann traf ich einen gutaussehenden Mann mit guten Manieren. Er trank nicht. Das war mir nach den Erfahrungen wichtig. Er ging hinreißend mit meiner Tochter um. Jeder, der ihn traf, fand ihn sympathisch und anständig. Meinen Sehnen nach einer Bilderbuchfamilie schien erfüllt. Und so heiratete ich ihn.

Kaum nach der Hochzeit änderte sich das Bild. Er war jähzornig und begann meine Tochter wegen Kleinigkeiten zu schikanieren. Nach außen war er immer noch der sympathische Typ, den alle mochten. Bei seinen Kolleginnen war er besonders beliebt. Aber in unserem Familienkosmos wurde er zum Tyrannen. Ich wollte mich davon befreien, doch noch eine Scheidung? Das wäre ein gesellschaftliches Aus. Konnte ich das meiner Familie und meinem Kind antun? Vielleicht würde alles besser werden mit einem eigenen gemeinsamen Kind? Verwandte redeten auf mich ein, dass ein gemeinsames Kind eine gute Idee sei. Ich ließ mich darauf ein, auch wenn ich mich insgeheim sorgte.

Wir bekamen eine Tochter und…

Alles wurde schlimmer. Je länger die Ehe dauerte, desto maßloser wurde er. Ohne Grund oder bei Banalitäten, wie eine Tasse fallen zu lassen, schlug er meine Große. Er machte mir und meinen Kindern Angst. Vor seinen Wutausbrüchen war niemand sicher. Immer suchte er etwas, das ihm Anlass geben konnte, meine große Tochter zu schlagen und sie anzuschreien. Er benahm sich wie ein Pascha; lag, sobald er von der Arbeit kam und am Wochenende, auf dem Sofa und wollte bedient werden. Ich schützte mein Kind, wo es nur ging. Hielt sie von ihm fern, damit er gar nicht erst auf die Idee käme, wieder zuzuschlagen. Tja, aber er brauchte diesen Kick. In den Streitigkeiten mit mir begann er nun auch mich zu schlagen. Doch viel schlimmer war, dass er häufig im Anschluss seiner Wutausbrüche mit mir schlafen wollte. Er nahm sich, was er wollte und ich musste es ertragen. Ich hielt aus, weil es doch so war und ich nicht fliehen konnte. Dabei fühlte ich mich schmutzig und angeekelt. Zunächst kämpfte ich noch, wollte heraus aus der Ehe. Aber wohin mit zwei Kindern? Es gab keinen Wohnraum. Meine Eltern konnten mir nicht helfen. Nach außen waren wir auch eine angesehene Familie. Ich begann mich wie eine Versagerin zu fühlen. Mein Lebensmut ließ nach. Ich dachte an aufgeben. Nur mein Wissen, dass meine Kinder mich brauchten, gaben mir noch Kraft. Nachdem meine große Tochter auszog, um in die Lehre zu gehen, fokussierte sich seine ganze Aggression auf mich. Irgendwann begann ich chronische Kopfschmerzen zu bekommen. Und plötzlich wusste ich, er oder ich. Ich steuerte auf mein eigenes Ende zu. So holte ich mir Rat in einer ambulanten Beratungsstelle. Dieses Gespräch gab mir letztlich den Willen und den Mut, mich gegen ihn zur Wehr zu setzen. Egal, was man von mir denken würde und welchen gesellschaftlichen Abstieg ich in meinem kleinen Ort haben würde. Ich wusste, ich kann mich von diesem Mann trennen. Mit dieser inneren wiedererlangten Stärke trennte mich von ihm. Sofort wurde er weinerlich und änderte sein Verhalten. Mit süßen Worten, kleinen Geschenken und Briefen wollte er mich wieder einfangen. Das ließ ich nicht zu. Als er merkte, dass dies nicht half, drohte er zunächst sich umzubringen. Auch das ließ mich kalt. Als er mich und meine kleine Tochter bedrohte und wie irrsinnig in der Wohnung hin und her lief, rief ich die Polizei. Er war Männern gegenüber ein typischer Feigling, so dass der Einsatz der Polizei half. Auf einmal war alles ganz einfach. Er konnte mich nicht mehr einschüchtern.

So bot ich ihm die Stirn und er verschwand aus unserem Leben. Menschen, die ihn kannten, bedauerten ihn ob seiner „unverantwortlichen“ Frau. Kaum jemand konnte oder wollte mir glauben, dass er ein Ungeheuer sein konnte? Niemandem war bislang etwas aufgefallen. Wir hatten stets aus Scham geschwiegen. Die Richterin, die das Scheidungsurteil verkündete, war ganz seinem Charme erlegen. Ich war die Böse, die eine gute Ehe hinwerfen würde. Aber das alles war mir egal, denn das Martyrium hatte aufgehört. Meine Eltern, meine Geschwister und meine Kinder waren da. Das war mir genug.

Das ist nun 25 Jahre her. Geblieben sind die Schuldgefühle meinen Kindern gegenüber, in einer so gewalttätigen Umgebung groß geworden zu sein. Und noch immer spukt er in meinen Träumen. Aber wenn ich aufwache, bin ich erleichtert und freue ich mich, unabhängig, selbstbestimmt und angstfrei zu leben.