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Norma (25 Jahre)

„Ir­gend­wann lebt man nur noch von Mo­ment zu Mo­ment. Aber dann, wenn ein­mal der Stein ins Rol­len ge­bracht wurde, dann än­dert sich alles Stück für Stück.“

Die kul­tu­rel­le Her­kunft mei­ner El­tern und deren re­li­giö­sen Über­zeu­gun­gen be­deu­te­ten für mich in mei­ner Kind­heit und Ju­gend wenig bis kei­nen Frei­raum. Es war mir nicht er­laubt, über die Schu­le hin­aus Kon­takt zu Freun­den zu haben. Auch So­zia­le Me­di­en waren ein ab­so­lu­tes Ta­bu­the­ma. Zum Teil wur­den die Er­zie­hungs­me­tho­den mit Ge­walt durch­ge­setzt. Es ging um den Ruf mei­ner Fa­mi­lie, der für die Hei­rats­ver­mitt­lung der Töch­ter aus Sicht der El­tern so wich­tig war. Die An­fra­gen für ar­ran­gier­te Ehen konn­te ich zu­nächst über ei­ni­ge Jahre hin­weg aus­wei­chen, weil ich mei­nen Schul­ab­schluss ma­chen woll­te. Dann, am Tag der Zeug­nis­über­ga­be spür­te ich, dass etwas nicht stimm­te. Als ich nach Hause kam, wurde ich von mei­nem Vater mit Vor­wür­fen kon­fron­tiert. Er hatte mir nach­spio­niert und her­aus­ge­fun­den, dass ich in den So­zia­len Net­zen aktiv war und Freund­schaf­ten ge­pflegt hatte. Ich wurde ge­walt­sam be­straft und durf­te von nun an die Woh­nung nicht mehr ver­las­sen. Als die Si­tua­ti­on immer wei­ter es­ka­lier­te, nutze ich die eine Mög­lich­keit und floh mit ei­ni­gen Hab­se­lig­kei­ten aus dem Fens­ter auf die Stra­ße. Ich wohn­te zu­nächst bei Freun­den, bevor ich von der Fach­be­ra­tungs­stel­le VERA gegen Frau­en­han­del, Zwangs­ver­hei­ra­tung und ehr­be­zo­ge­ne Ge­walt er­fuhr und den Kon­takt such­te. Hier wurde ich in ein Frau­en­haus ver­mit­telt und bekam die Chan­ce, mich neu zu sor­tie­ren und ein ei­gen­stän­di­ges Leben auf­zu­bau­en.

Aus­führ­li­che Dar­stel­lung: 

Mir war schon sehr früh klar, dass das Leben, was meine El­tern für mich vor­ge­se­hen hat­ten, nicht das ist, was ich woll­te. Auf­grund un­se­rer Kul­tur und der Re­li­gi­on war es sehr streng zu­hau­se. Ich bin in Deutsch­land ge­bo­ren, aber außer der Schu­le durf­te ich nichts wei­ter ma­chen. Meine El­tern haben mir und mei­nen Ge­schwis­tern alles ver­bo­ten. Was ihnen wich­tig war, war ein ta­del­lo­ses Bild nach außen. Und als ich das nicht mehr er­füll­te, haben sie mich erst ver­prü­gelt und dann ein­ge­sperrt. Da bin ich ab­ge­hau­en. Im Frau­en­haus fand ich Schutz vor der Rache mei­ner Fa­mi­lie. Und jetzt nach so vie­len Jah­ren kann ich mir gar nicht vor­stel­len je­mals in diese Com­mu­ni­ty zu­rück zu keh­ren.

Ich war wie eine Ge­fan­ge­ne da­mals. Ge­fan­gen in mei­ner Fa­mi­lie. Ich durf­te keine Freun­de haben und muss­te nach der Schu­le immer gleich nach Hause kom­men. Wenn wir mal ir­gend­wo waren, auf ir­gend­wel­chen Fei­ern der Com­mu­ni­ty, oder bei an­de­ren zu Gast, dann muss­te ich immer still­sit­zen und durf­te nichts sagen. Für meine Ge­schwis­ter war das ok. Für mich nicht.

Auch ist es bei uns ist es nor­mal, dass Mäd­chen in jun­gen Jah­ren in ar­ran­gier­ten Ehen ver­hei­ra­tet wer­den. Es wird ar­ran­gier­te Ehe ge­nannt, aber ein Un­ter­schied zu einer Zwangs­ver­hei­ra­tung exis­tiert fast nicht. Meine Mut­ter sagte ein­mal, dass der Tag, an dem sie mei­nen Vater das erste Mal ge­se­hen und ge­hei­ra­tet hat, der schlimms­te ihres Le­bens war. Weil ich mein Ab­itur ma­chen woll­te, konn­te ich zu­nächst die An­fra­gen zur Hoch­zeit ab­leh­nen. We­nigs­tens das haben sie mir er­laubt.

Ich war eine sehr gute Schü­le­rin, den­noch mach­te sich der psy­chi­sche Druck be­merk­bar und ich fiel im ers­ten An­lauf durch meine Ab­itur­prü­fun­gen. Dies fiel auf und meine Leh­re­rin­nen, Leh­rer und auch der Schul­so­zi­al­ar­bei­ter boten mir Hilfe an, die ich je­doch aus Rück­sicht auf meine Ge­schwis­ter nicht an­neh­men konn­te.

Beim zwei­ten Ver­such be­stand ich end­lich mein Ab­itur. Aber am Tag mei­ner Zeug­nis­ver­lei­hung stand ich al­lein. Mir war klar, dass etwas pas­siert sein muss­te. Schließ­lich stell­te mich mein Vater nach mei­ner Rück­kehr zur Rede. Er hatte mei­nen Com­pu­ter durch­sucht und her­aus­ge­fun­den, dass ich Freund­schaf­ten auf­ge­baut hatte und in den so­zia­len Me­di­en an­ge­mel­det war.

Mein Vater wuss­te alles und war so er­zürnt über mich, dass er mich schlug. Immer wie­der. Immer in den Bauch hin­ein. Meine Mut­ter, die an­fangs mei­nen Vater noch bat auf­zu­hö­ren, hielt mich dann ir­gend­wann fest. Als sie fer­tig waren, sperr­ten sie mich in mein Zim­mer und von dem Mo­ment an durf­te ich noch nicht ein­mal mehr al­lein ins Ba­de­zim­mer gehen. Sie nah­men mir mein Te­le­fon weg und spra­chen kein Wort mehr mit mir. In ihren Augen hatte ich den Ruf der Fa­mi­lie zer­stört. Auch meine Ge­schwis­ter sahen das so. Dabei waren sie der Grund, warum ich nicht schon längst ab­ge­hau­en war. Ich woll­te meine Fa­mi­lie nicht ge­fähr­den. Aber dar­über muss­te ich mir nun keine Ge­dan­ken mehr ma­chen. Als mein Vater ein­mal nicht zu­hau­se war, zog ich mir alle Sa­chen an, die in mei­nem Zim­mer waren. Ich hatte nur Schu­he mit Ab­satz im Schrank, also nahm ich die. Und ich pack­te eine klei­ne Hand­ta­sche mit mei­nem Porte­mon­naie, Aus­weis, etwas ge­spar­tes Geld und mei­nem Abi-​Zeugnis. Dann sprang ich aus dem Fens­ter und lief ein­fach so schnell ich konn­te die Stra­ße ent­lang. Schnell war ich nicht in den Schu­hen. Ich hatte pa­ni­sche Angst. Das weiß ich noch. Kein Te­le­fon und keine Ah­nung was ich ma­chen soll­te. Ich kam dann erst­mal für ein paar Tage bei Freun­den unter. Im In­ter­net fand ich den Kon­takt zu einer Frau­en­hilfs­or­ga­ni­sa­ti­on. Dort riet man mir An­zei­ge zu er­stat­ten, aber das woll­te ich nicht. Es waren meine El­tern und ich wuss­te nicht, was das für sie be­deu­ten würde, wenn ich sie an­ge­zeigt hätte. Erst nach zwei Mo­na­ten kam ich zu den Leu­ten, die wirk­lich wuss­ten, wie sie mir hel­fen kön­nen. Die Fach­be­ra­tungs­stel­le „Vera gegen Frau­en­han­del und Zwangs­ver­hei­ra­tung“ hat mir einen Platz im Frau­en­haus ver­mit­telt. Ich wuss­te ja nicht, wie weit meine Fa­mi­lie wirk­lich gehen würde. Ich hatte schon ei­ni­ges von mei­nen Lands­leu­ten ge­hört. Im Namen der Ehre pas­sie­ren schlim­me Dinge. Die Si­cher­heit, weit weg von Zu­hau­se zu sein, war für mich wich­tig, um mir zu über­le­gen, wie es wei­ter gehen soll­te. Als ich end­lich den Mut fass­te, konn­te ich mein Leben nach mei­nen ei­ge­nen Vor­stel­lun­gen be­gin­nen. Heute bin ich ver­hei­ra­tet und habe einen Job, den ich sehr mag. Das alles, was ich ge­ra­de er­zählt habe, scheint mir weit, weit weg. Aber meine Kul­tur liebe ich den­noch. Ich bin mit ihr ver­bun­den, auch wenn ich von mei­ner Fa­mi­lie seit­dem nichts mehr ge­hört habe.